In ihrem neuen Roman „Schlaf der Vernunft“ erzählt Tanja Kinkel den Werdegang einer RAF-Terroristin.

Tanja Kinkel schreibt vor allem historische Romane. In ihrem neuen Buch „Schlaf der Vernunft“ greift sie ebenfalls auf ein geschichtliches Thema zurück, allerdings auf eines der jüngeren Geschichte. Dass bei der Titelgebung Francisco de Goyas berühmte Radierung Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus der Sammlung Los Caprichos Pate stand liegt nahe. Eine der zahlreichen Interpretationen lautet, dass sich alles in monströse Visionen verwandelt, wenn die Vernunft schläft. Oder anders gesagt, sobald die Vernunft sich zurückzieht und der Fantasie keine Zügel mehr anlegt, geschieht Ungeheuerliches. Eine Steilvorlage für den Roman, denn er spielt in der Zeit zwischen den 70er und 90er Jahren, als die Rote Armee Fraktion die Bundesrepublik mit ihren Gewalttaten erschütterte. Als sie von Revolution sprach, während es für alle anderen Terror war. 1998 erklärte sie ihre Selbstauflösung, zeitgleich setzt die Handlung ein, nämlich mit der Begnadigung einer RAF-Terroristin.

Martina Müller heißt sie, ein fiktiver Name für eine fiktive Person. Auch die anderen Handlungsträger sind fiktiv. Die Tochter Angelika, die sich ihrer Mutter nach der langen Haftzeit annehmen soll, obwohl jedwede Verbindung abgebrochen war. Die Freundin Renate, die jetzt Bundestagsabgeordnete der Grünen ist und die Freilassung für sich instrumentalisieren will. Die Angehörigen der Opfer, des Staatssekretärs, seines Chauffeurs und seiner Leibwächter, deren Leid nicht verjährt. Die Mittäter, die unterschiedlich Reue zeigen. Sie alle sind der Wirklichkeit abgeschaut, ins Zeitgeschehen eingebettet, den real existierenden Personen gleich gestellt und bleiben doch nur Rollen. Ist es wirklich nur die Abwesenheit von Vernunft, die ihre Beweggründe und Handlungen bestimmt? Tanja Kinkel hat sich da auf ein schwankendes Terrain begeben, aber sie bezieht nicht Stellung, überlässt es dem Leser, sich einen Reim darauf zu machen.

Auf zwei Schienen fährt der Roman. In Rückblenden werden Martinas Spuren verfolgt. Die Entwicklung der Filmstudentin aus bürgerlichem Hause von der Sympathisantin über die Illegalität und dem Gängelband der Stasi bis hin zum Attentat, der Festnahme, Verurteilung, den Gefängnisjahren, in denen sie jeden Kontakt mit ihrer Tochter ablehnt. Dagegen wird die Zeit nach der Freilassung gesetzt, die Annäherung der beiden Frauen, die Reaktion der Kinder, Ehefrauen, Mütter der Opfer, des einzig überlebenden Leibwächters. Kinkel dekliniert sozusagen alle Facetten einer solchen Gemengelage durch, lässt unentwegt miteinander reden, ordnet allen Protagonisten ihre Funktion zu, wie Figuren auf dem Schachbrett, die nur nach bestimmten Regeln gezogen werden dürfen. Wenig Einblick gewährt sie in deren Innenwelt, beschreibt ihre Handlungen, nicht ihre Gefühle, so bleiben sie seltsam farblos auf dem Papier liegen. Nicht als Akteure, sondern als Träger eines Geschehens, das auch heute noch offene Fragen hinterlässt.
Katrina Behrend Lesch

Tanja Kinkel
Schlaf der Vernunft
Roman, 448 Seiten
Droemer-Knaur, München 2015
19,99 Euro