Als ich die letzte Bücherkiste in den Corsa gestopft, barfuß meine Schuhprofile aus den gähnenden Räumen gewischt und den Bauch der Tapete von innen befühlt habe, denke ich an David. Ich lege das Schlüsselpaar auf den Tisch, zähle die Kratzer im Parkett und überlege, wie es gewesen sein mochte, gewesen war, David und ein Jahrzehnt lang zwanzig zu sein. Das Studium, die Jahre in dieser Berliner Weltkriegswohnung vor, nicht hinter sich zu haben. Von dieser post-postadoleszenten Besessenheit von Zahlen nichts zu ahnen und das nicht schätzen zu müssen. Und dann erinnere ich mich, wie sehr dieser Gedanke an dem David von damals vorbeigeht, denn:

Als er damals ausgezogen und – nach einer Sintflut an Tipps, Ratschlägen, Hinweisen, Warnungen, zwei Umarmungen und einem nicht mehr zu verhindernden Bussi seiner Mutter, nach sechs Stunden Fahrt, einer Stunde Stau, 45 Minuten Ausräumen, drei Ratschlägen und einem Händedruck seines Vaters – an einem Freitagspätnachmittag endlich im Berliner Wedding angekommen war, da hatte er, auf dem Boden seiner ersten eigenen Wohnung sitzend, nur an eines denken können:

Den großen Auszug, den letzten Tag in der Schule. Nach etlichen Komplikationen, Treffen mit dem Schulleiter, dem stellvertretenden Schulleiter, dem Hausmeister, dem Sekretariat, Versprechungen und Gegenversprechungen, Rundmails und Abstimmungen in den sterilen Konferenzräumen hatte der Jahrgang, bzw. zwei Idealistinnen, die sich dazu verpflichtet fühlten, nämlich erreicht, dass alle Abiturienten die Nacht vor dem großen Tag im Gymnasium verbringen durften. Und wider alles Erwarten war wirklich der gesamte Jahrgang gekommen, selbst die, die nach den mündlichen Prüfungen als verschollen galten, waren auf einmal wieder aufgetaucht und alle hatten zusammen die Bühne auf dem Schulhof aufgebaut und Alcopops, Bier und Wodka getrunken und zu House und Techno aus den Boxen eines Golfs gefeiert. Und trotz aller Meinungsverschiedenheiten, Feindschaften und Todfeindschaften hatten sie geschlossen den Lehrerflügel bis zur Decke mit Klopapierbergen vollgestopft und die Türklinken mit Zahnpasta beschmiert und Stühlepyramiden in den Klassenzimmern gebaut und überall miese Abgängersprüche hingeschmiert und so lange Luftballons aufgeblasen, bis kein freier Fleck Boden in der Eingangshalle mehr war und es ständig knallte, wenn einer von draußen reinkam.

Und lange nach Mitternacht, als keine Autos mehr fuhren und es ganz ruhig um die Schule herum war und ihre Stimmen weit in die Nacht vordrangen bis zu den abertausenden Sonnen über ihnen, hatten sie in sonderbar gemischten Grüppchen auf den Bühnenteilen und steinernen Tischtennisplatten liegend Geheimnisse, Joints und unmögliche Geständnisse ausgetauscht und Schulter an Schulter in die Büsche gekotzt und in die Sträucher gepinkelt und die Pärchen hatten auf den Mädchenklos oder auf dem Schuldach gevögelt und David hatte schrecklich besoffen mit der Band geprobt und keinen einzigen Bund seiner Gitarre getroffen und sich mit Leuten verbrüdert, die er vorher nicht einmal mit dem Arsch angeguckt hatte, und das alles fürchterlich dämlich und unfassbar großartig gefunden.

Und am nächsten Morgen war er wie alle anderen viel zu spät auf dem Schulhof aufgewacht, der wie ein Schlachtfeld aussah, und hatte mit einem scheußlichen Kater so schnell wie es ging beim Aufbau des Schlagzeugs und der Anlage geholfen und zwischendrin einen der Dutzenden Burger gegessen, die irgendjemand von McDonalds geholt hatte, und sich in sein Abishirt gezwängt und irgendwelche Riffs auf der Gitarre gespielt, als die ganze Schule schon vor der Bühne, aber das Schlagzeug immer noch nicht verstärkt war.

Und als es endlich losging und die Fünft- und Sechstklässler in den vordersten Reihen sich zu einer scheppernden Interpretation von „Self esteem“ in Ekstase gehüpft und geschrien hatten, während die Abiturienten von den Dächern des Gymnasiums Wasserbomben auf sie schmissen und sie mit Feuerwehrschläuchen bespritzten, hatte er ganz am Rand der Bühne noch vor dem Sänger gestanden, hatte die fünf Akkorde geschreddert, jede Zeile der Strophe mit gegrölt und die Sonne in seinem Nacken gespürt und die Lichtbrechungen in den verschwitzten Gesichtern betrachtet und bei dem „Yeah, yeah“ Sing-along im Chorus hatte er sich wie auf einer Welle tragen lassen und nach oben in den blauen Himmel geschaut, in dem direkt über ihm eine Wolke schwebte, die so weiß war, wie er es nur von Raufasertapeten, Heizkörpern, Styroporkästen, Bettüberzügen, verkalkten Gläsern und Unterhosen kannte, und mit einem Mal hatte er intuitiv und untrüglich gewusst, dass seine Jugend, die eine einzige Erwartung gewesen war, ein gewaltiger Resonanzkörper, der nachts unter seinen Schritten vibrierte, nun endgültig und unwiderruflich vorbei war, und dass das, was er immer vor sich geglaubt hatte, was fast in greifbarer Nähe schien, in eben diesem Moment bereits hinter ihm lag, ohne dass er auch nur geahnt hätte, was es war.

Aus dem Romanprojekt Sagen