[LiSe 04/22] Kurzgeschichte: Endstation

Von Nina Hölzl

Der Junge nähert sich mit schlurfenden Schritten und bleibt unbeholfen vor mir stehen. Seine Jeansjacke ist viel zu groß, seine Hose für meinen Geschmack zwei Nummern zu klein, und die weißen Turnschuhe mit drei Streifen fallen ihm schon fast von den Füßen. Zögernd und mit unsicherem Blick, der mich aus halb-geschlossenen Augen hinter verdunkelten Brillengläsern trifft, hebt er eine Hand und drückt leicht gegen mich. (mehr …)

[LiSe 03/22] Kurzgeschichte: Warum lieben sie uns nicht

Von Wolfram Hirche

Spät am Tag in der Mitte des Sommers, ein Tag im Juli, die Mücken tief im Park, keine Schwalbe am Himmel, die Taxifahrer hupen nervös, Radfahrer queren bei rot die Straßen, Mütter retten ihre Brut; eine Gewitterfront nähert sich von Westen, Schwüle in den Straßen. Das Jahr schon alt und klebrig von Erinnerungen. Man wartete ungeduldig. Die Seen auf Badeenten, auf rosa Krokodile, die aufgeblasen lagen und herunterschauten durch schwarz lackierte Balkongeländer, erwartungsvoll. Die wahre Hitze wollte nicht durchbrechen in diesem Sommer. (mehr …)

[LiSe 02/22] Kurzgeschichte: Noch nicht!

Von Tania Rupel Tera

Die Tram zeigt sich langsam von oben. Sie kriecht aus dem Berg, wie ein Wurm aus einem faulen Apfel. Witoscha, heißt dieser Apfel, schöner Name, weiblich. Aber warum ist er so dunkel, so gefroren? Ich steige ein. Zu viele Menschen für einen Sonntag, schießt es mir durch den Kopf. Wohin wollen sie denn so früh? Ich muss ins Krankenhaus, deswegen bin ich hier. Warum du, schmächtiges, zu stark geschminktes Mädchen? Und du, Opa? Ich kann nicht aufhören, innere Gespräche zu führen. Wohin willst du denn am Mittag, ungnädige Frau mit hässlicher Mütze? Ich habe es eilig, meine Mutter hat ihre erste Chemo, und du trittst mir auf den Fuß. Hallo, hör auf, das ist die schwerste Zeit meines Lebens. (mehr …)

[LiSe 10/21] Kurzgeschichte: AUSZÜGE

Als ich die letzte Bücherkiste in den Corsa gestopft, barfuß meine Schuhprofile aus den gähnenden Räumen gewischt und den Bauch der Tapete von innen befühlt habe, denke ich an David. Ich lege das Schlüsselpaar auf den Tisch, zähle die Kratzer im Parkett und überlege, wie es gewesen sein mochte, gewesen war, David und ein Jahrzehnt lang zwanzig zu sein. Das Studium, die Jahre in dieser Berliner Weltkriegswohnung vor, nicht hinter sich zu haben. Von dieser post-postadoleszenten Besessenheit von Zahlen nichts zu ahnen und das nicht schätzen zu müssen. (mehr …)

[LiSe 09/21] Kurzgeschichte: Gottfried ist unsterblich

Von Gabriele Eichl

Anfangs sprachen Herrmann und Fausthild S. nicht darüber. Darüber zu sprechen hätte bedeutet, zuzugeben, dass man beunruhigt war. Hätte als eine Art Eingeständnis einer Schuld gedeutet werden können. Und das wollten beide unbedingt vermeiden. So wie sie seit jenem Tag nie wieder seinen Namen ausgesprochen hatten. Und doch hatte Gottfried nie aufgehört, im Haus anwesend zu sein. (mehr …)