Von Ulrich Braun
Die Frau in der Haustür ist ihm unbekannt. Umso erstaunlicher ist, dass sie ihn umarmt und mit „Willkommen zuhause“ begrüßt. Sein grauhaariger Begleiter, der ihn aus dem Pflegeheim abgeholt und sich im Laufe der Autofahrt als sein Sohn Christoph entpuppt hat, stellt die Dame als seine Frau Monika vor.
„Ach ja, Monika“ sagt er, ist sich aber nicht ganz sicher, ob er sie wirklich kennt. Im Flur warten mindestens zehn Personen, die ihn der Reihe nach umarmen. Sie werden ihm als seine Töchter Marion und Christine, seine Enkelinnen Emma und Jule und als seine zwei Urenkelinnen vorgestellt, deren Namen er aber gleich wieder vergisst. Dazu eine unbestimmte Zahl von Schwiegersöhnen und Lebensgefährten.
Das sei hier ja alles nicht gerade übersichtlich, sagt er. Alle lachen. Er lacht mit. Ihm ist offenbar eine Pointe gelungen. Früher hat er gern mal einen Spaß gemacht, nur heute verstehen die Leute seine Späße nicht mehr. Sie lachen entweder gar nicht oder an den falschen Stellen.
Er fragt, ob seine Frau schon da sei. Seine Tochter Christine, die ihrer Mutter so ähnlich sieht – oder ist es deren Tochter Emma? – , legt ihm die Hand auf den Unterarm und sagt, Mutti sei doch letztes Jahr gestorben. „Ach ja“, beeilt er sich zu nicken. Dass er gerade vorhin noch mit ihr gesprochen hat, sagt er lieber nicht.
Es gibt Tee und Plätzchen. Dann geht es zur Kirche. „Warum zur Kirche?“, will er wissen. Es sei doch Weihnachten, rufen viele Stimmen durcheinander. Aha, das würde die erleuchteten Fenster und die Tannenbäume in den Vorgärten erklären. Der Tag verläuft wie alle Tage in diesem ewigen Zwielicht. Er weiß nicht, ob er jemanden kennt oder kennen sollte. Draußen wird es gar nicht richtig hell, und genauso sieht es in seinem Innern aus. Und jetzt ist plötzlich Weihnachten – und er hat überhaupt keine Geschenke. Das geht ihm die ganze Zeit durch den Kopf. Er kann sich auf die Geschichte gar nicht richtig konzentrieren. Es begab sich aber zu der Zeit …. Nur bei den Liedern singt er aus voller Brust mit. O, du fröhliche …
Nach der Kirche gibt es Würstchen mit Kartoffelsalat. Und dann wird es plötzlich hell. Die Schiebetür zum Weihnachtszimmer öffnet sich, und da steht es. Das Puppenhaus. „Weißt du noch?“, fragt Christine. „Du hast es für uns gebaut. Christoph hat es für Marie und Sophie neu hergerichtet.“ Natürlich weiß er. Er kennt jede Leiste, jedes Fenster. Er kann den Bootslack noch riechen, mit dem er das Dach lackiert hat. Und er erzählt, wie er mit Christoph an jedem Abend in der Vorweihnachtszeit in den Keller gestiegen ist. Christoph durfte mit Sandpapier die Kanten glattschmirgeln. Zusammen haben sie die Außenwand mit einer Klinkertapete beklebt.
Marie und Sophie sind vier und sechs Jahre alt. Sie werden sich den ganzen Abend nicht daran stören, dass er sie manchmal Jule und Emma, meistens aber Christine und Marion nennt. Was sie aber sensationell finden, ist, dass er ihnen eine verborgene Tapetentür zeigt, die von der Küche direkt ins Wohnzimmer führt. Sie hatten sich die ganze Zeit gefragt, wie die Puppenfamilie denn in die Weihnachtsstube gelangen sollte. Sie stellen den kleinen Christbaum auf. Dann gruppieren sie die Familie drum herum.
„Im Spiel bist du dieser Junge“, sagt das kleinere der beiden Mädchen und drückt ihm eine Puppe mit kurzen Hosen in die Hand. Das lässt er sich nicht zweimal sagen. Ab jetzt ist er dieser Junge. Da sind Vater, Mutter, Großmutter und drei Kinder. Und weil noch etwas Platz in der Puppenstube ist, holt das größere der beiden Mädchen einen der Hirten aus der Weihnachtskrippe, die unter dem Christbaum aufgebaut ist. Er holt die anderen Hirten und die Weisen aus dem Morgenland. Bald sind nun alle versammelt: Maria und Josef, Ochs und Esel, die Hirten, die Könige und ein Engel.
Und weil er im Spiel dieser Junge mit den kurzen Hosen ist, ist das nun seine Familie. Er sieht seine Mutter und die Großmutter. Sein Vater ist da – in den Kleidern eines Hirten, aber immerhin in zivil. Er hat also doch Urlaub von der Front bekommen. Auch seinen Großvater erkennt er und seine Schwester mit den langen, schwarzen Zöpfen. Da ist seine Frau und mitten drin er selbst, der Junge in kurzen Hosen, der bei den anderen Kindern sitzt. Und dann holte er die Krippe mit dem Jesuskind. Für andere mag das unübersichtlich sein. Doch er fühlt in diesem Moment die Klarheit des Herrn um sich.
Früher hat er, wenn alle versammelt waren, immer eine kleine Ansprache gehalten. Er weiß zwar nicht, was er sagen soll, aber der alte Impuls ist noch da. Er merkt, wie er aufsteht. Er lauscht in die Stille. Alle lauschen mit ihm. Das ist sein Moment und der soll bitte noch nicht aufhören. Tatsächlich spürt er, wie ein Satz in ihm aufsteigt. Er breitet die Arme aus und hört sich feierlich sagen: „Ist noch was von dem Kartoffelsalat da?“
Er ist überaus zufrieden mit sich, weil ihm zum Schluss noch ein Spaß gelungen ist, den alle verstanden haben.