Zeitzeugen und Chronisten
„Colibris“ – der Neuhauser
Lieblingsbuchladen von Dagmar Leupold

Von Kiew ist es nicht gerade der nächste Weg, doch immer, wenn der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow nach München kommt, schaut er bei „Colibris“ vorbei. So auch an diesem sonnigen Oktobertag: Kurkow zieht seine Mütze vom Kopf, Martin Scherfchen, der Inhaber der Buchhandlung, begrüßt den Autor mit großem Hallo, kocht einen Espresso. „Colibris“ hat offenbar nicht nur Stammkunden unter den Lesern, sondern auch unter den Schriftstellern. „ Die Buchhandlung ‚Colibris’ kenne ich schon seit mehr als einem Jahrzehnt, zunächst nur vom Hörensagen. Seit 2007, also seit meinem Umzug nach München aus eigener Erfahrung“, sagt die Autorin Dagmar Leupold. „Ich schätze das Sortiment, die gut und vielfältig gefüllten Regale, die sehr kompetente und engagierte Beratung.“ 22 Jahre gibt es die kleine, sehr feine Buchhandlung schon, und sie ist in Neuhausen eine Institution.

Gerade mal hundert Quadratmeter groß ist der Buchladen an der Leonrodstraße in unmittelbarer Nähe vom Rotkreuzplatz. Vor den Schaufenstern locken DVD mit Literaturverfilmungen und Hörbücher in den Laden, drinnen gibt es Belletristik, Sach- und Reisebücher, Krimis, Kinder- und Jugendbände. „In diesem Herbst gibt es so viele Titel in der Belletristik wie noch nie“, meint Scherfchen. In der Raummitte stehen sie geballt – die neuen Romane und Erzählungen, die die vier BuchhändlerInnen von „Colibris“ nach Möglichkeit alle selbst gelesen haben. „Wir wissen Bescheid, wir können beraten“, versichert der Besitzer, der gleich noch hinzufügt: „Wir haben eine anspruchsvolle Kundschaft hier in Neuhausen und Nymphenburg.“

Der Stadtbezirk 9, ein laut Scherfchen „tolles Viertel“, hat es auch Dagmar Leupold angetan. In ihrem jüngsten Roman „Unter der Hand“ gibt es immer wieder Szenen rund um den Rotkreuzplatz. „Die Gentrifizierung hält sich in Grenzen“, sagt sie „Die größte und betrüblichste Veränderung ist der Wegfall des wunderbar vergruschtelten Haushaltswaren-/Werkzeugladens an der Ecke Rotkreuzplatz/Nymphenburger Straße. Ein Barackenbau aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, herrlich provisorisch. Dort konnte man einzeln solche Dinge wie Unterlegkeile erwerben, die bei den notorisch schrägen Böden in Altbauten unverzichtbar sind. Sie wurden in spitzen Papiertüten überreicht, wie man sie von Gebrannten Mandeln kennt.“ Spitz sind die Papiertüten bei „Colibris“ nicht, aber es gibt sie. Historie sind dagegen die rund 150 Autorenlesungen, die die Buchhandlung noch bis 2008 organisierte, zu den Gästen zählten Daniel Kehlmann, Siri Hustvedt, Juli Zeh, Ralf Rothmann, Ingo Schulze, Urs Widmer, David Grossmann, Terezia Mora, Stuart ONan oder Andrej Kurkow. In seinem Büro hat Scherfchen noch die Prospekte zu seinen Lesungen, es sind Zeitdokumente.

Ein Zeitdokument hat man auch den Roman „Unter der Hand“ genannt, für den Leupold 2013 mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet wurde. Literatur als „Zeitgenossenschaft“ versteht die Schriftstellerin so: „Für mich ist das eine bewusste Entscheidung, sich für die eigene Gegenwart zu interessieren, neugierig, analytisch, kritisch und gelegentlich auch besorgt beziehungsweise verzweifelt,“ Dabei gibt die Autorin zu bedenken: „Es ist eine problematische Nähe, weil sich Konturen ja meist erst aus der Rückschau ergeben, außerdem ist man in Personalunion Betrachter und Akteur.“ Zeitzeugen seien nicht nur Chronisten vergangener Tage sondern des Hier und Jetzt. „Literatur leistet für mich eine solche – von anderen nachlesbare – Bezeugung.“ Man darf gespannt sein, was Dagmar Leupold, die vor zwei Jahren das „Forum:Autoren“ beim Münchner Literaturfest kuratierte, in ihrem neuen Werk „bezeugen“ will. Nur soviel verrät die Schriftstellerin bislang: Das Romanprojekt trägt den Titel „Die Witwen“ und wird im kommenden Herbst erscheinen.

Bis es soweit ist, wird Leupold weiter zwischen München und Tübingen pendeln – dort leitet sie das Studio Literatur und Theater der Universität. Soweit dann noch Zeit bleibt, arbeitet sie den Berg an Büchern auf ihrem Nachttisch ab: Dort liegen unter anderem die Sonette von Shakespeare, Rilkes „Duineser Elegien“, „Levins Mühle“ von Bobrowski, „Kritik der schwarzen Vernunft“ von Achille Mbembe und „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion“ von Frank Witzel. Dagmar Leupold hat die Lektüre der 800 Seiten von Witzel noch vor sich, Martin Scherfchen hat das schon hinter sich gebracht. „Ich kann den Roman empfehlen“, sagt der Buchhändler. Und das nicht nur, weil Witzel mittlerweile den Deutschen Buchpreis erhalten hat.

Ina Kuegler

P.S.:
In unserer Serie „Meine Liebslingsbuchhandlung“ haben wir bislang u. a. Lehmkuhl mit Hans Magnus Enzenberger, die Autorenbuchhandlung mit Albert Ostermaier und Literatur Moths mit Thomas Jonigk und Christof Loy vorgestellt.