Handverlesene Kostbarkeiten
Wunderhaus und Zauberboot
Die Sammlung von Barbara Murken umfasst mehr als 1000 Kinder- und Jugendbände.
Streifzüge sind eine der beliebtesten Tätigkeiten von Dr. Barbara Murken. Ihre bevorzugten Erkundungsorte sind Antiquariate und Auktionen. Denn dort ist immer mal wieder genau das Kinderbuch zu finden, das der Ärztin und Psychotherapeutin aus Ottobrunn gerade noch fehlt in ihrer Sammlung. Wenn es sich um eine handverlesene Kostbarkeit – womöglich noch aus dem frühen 20. Jahrhundert – handelt, dann wird Barbara Murken mit hoher Wahrscheinlichkeit zugreifen, der gestiegenen Marktpreise zum Trotz. Ansonsten wird sie einfach ihre Streifzüge fortsetzen.
Barbara Murken war Studentin, als sie begann, durch die Antiquariate und – damals noch – über die Flohmärkte in und um München zu streifen. Kinderbücher hatten es ihr angetan, vielleicht auch, um ein Stück Kindheit zu retten nach dem Umzug der Familie 1959 von Schmalkalden in Thüringen nach Ottobrunn. Barbara Murken war da gerade erst 14, die vier Brüder ausnahmslos älter. Als sie sich fürs Sammeln von Kinderbüchern entschied, Mitte der 60er Jahre, waren die Fundstücke noch bezahlbar, und die Antiquare der Stadt standen der jungen Sammlerin mit Rat und Tat zur Seite, wie sie heute betont.
So wuchs die Ottobrunnerin hinein in ein Sammlungsgebiet, das sich über drei Jahrhunderte erstreckt. Die Keimzelle war „Orbis sensualium pictus“ („Die sichtbare Welt“) von Johann Amos Comenius, ein Buch, das als das erste Werk der Kinder- und Jugendliteratur gilt und 1658 erschien. „70/80 Mark, das war machbar, das Buch war gut erhalten, ich habe es heute noch“, erzählt Barbara Murken.
Von Anfang an beschränkte sie sich nicht auf das Sammeln. Sie las die Bücher, später gemeinsam mit den eigenen Kindern, sie beschäftigte sich intensiv mit den Illustratoren und mit den Autoren, und sie organisierte selber Ausstellungen und verfasste Kataloge und Bibliografien. Mit Aufsätzen in Fachzeitschriften und Vorträgen auf Tagungen machte sie sich einen Namen als Expertin. Schon früh galt ihr Hauptinteresse dem frühen 20. Jahrhundert. Man begann, Kinder nicht mehr nur als kleine Erwachsene zu sehen. Mit den Ideen und Erkenntnissen der Psychoanalyse gewann die Kinderpsychologie eine ganz neue Bedeutung. Bücher für Kinder gerieten in den Fokus der Erwachsenen, nicht zuletzt der Künstler, die begannen, ihre Begabung in den Dienst kindgerechter Werke zu stellen. Kinderbücher wurden zu kleinen Kunstwerken und damit zu Zeugnissen – beispielsweise – des Jugendstils. Barbara Murken nennt in diesem Zusammenhang Ernst Kreidolf, der in seinem ersten Bilderbuch „Blumenmärchen“ (1898) Bilder und Schrift kunstvoll gestaltete.
Eine Bilderbuch-Künstlerin, die der Ottobrunner Sammlerin besonders am Herzen liegt, ist Tom Seidmann-Freud. Die Nichte Sigmund Freuds wurde 1892 in Wien geboren. Sie galt als scheu und schwierig, unglücklich und unschön und starb 1930 verzweifelt und einsam an einer Überdosis Tabletten. Geblieben sind ihre Spielbücher „Das Wunderhaus“ und „Das Zauberboot“, mit denen Kinder Karawanen eine Brücke überqueren lassen können, ihre vier Spielfibeln, die den Spieltrieb der kleinen Leserinnen und Leser nutzen, und nicht zuletzt das „Buch der erfüllten Wünsche“, das von den Auswirkungen der Psychoanalyse auf das Kinderbuch zeugt. Über Tom Seidmann-Freud hat Barbara Murken einige Arbeiten veröffentlicht.
Die Sammlung von Barbara Murken umfasst inzwischen über 1000 Bücher in gut klimatisierten Regalen. Teile wurden und werden noch in die Internationalen Jugendbibliothek ausge-gliedert, die mit der Sammlerin eine enge Zusammenarbeit pflegt.
Streifzüge unternimmt die Ottobrunnerin auch heute noch regelmäßig, wenn auch inzwischen häufig „mental“, durch Bibliographien oder Auktionskataloge. Seltene und besonders prachtvolle Ausgaben lässt sie sich manchmal schenken – oder schaut sie einfach nur an, denn „man muss nicht alles haben, man muss es nur kennen“, so die Einsicht angesichts meterlanger Regale. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, „Bücher, die einen anspringen“, so wie „Knirps, ein ganz kleines Ding“ von Lou Scheper-Berkenkamp, eine Bauhauskünstlerin. In so einem Fall hält auch eine routinierte Sammlerin wie Barbara Murken inne – einmal Sammlerin, immer Sammlerin.
Ursula Sautmann