Die Internationale Jugendbibliothek in der Blutenburg feiert ihren 70. Geburtstag
Von Katrin Diehl
Es klingt wie im Märchen: Bücher, die von anderen Welten erzählen, Kinder, die behütet in einem verwunschenen Schloss ihre Köpfe in diese Bücher stecken, schauen und lesen, jedes in seinem Tempo, die interessiert sind an allem, was anders und fremd ist, immer mehr lesen und immer schlauer werden, die, wenn sie erwachsen sind, die Welt zu einer besseren machen, einer also ohne Krieg.
Der Zweite Weltkrieg war vor gut einem Jahr zu Ende gegangen, das Ausmaß der Verbrechen – soweit man überhaupt davon wissen wollte – weder über den Verstand noch sprachlich zu fassen. Und so stolperte man durch den Alltag, legte sich die Vergangenheit zurecht, schwieg und verdrängte. Wer unter dem Nazi-Regime zu leiden hatte, irgendwie gerade noch davon gekommen war und trotzdem weiterhin an Deutschland glaubte, dem blieb kaum ein anderer Weg, als voller Idealismus auf die nachwachsende Generation zu setzen. Und so entstand die Idee von eben jenem Bücherschloss.
Das „Schloss“ war eine kriegsmarode Villa in der Maxvorstadt und der gute Geist trug den Namen Jella Lepman. Jella Lepman, 1891 in Stuttgart in ein jüdisch-liberales Elternhaus hineingeboren, 1936 mit ihren beiden Kindern vor den Nazis nach England geflohen, saß im Oktober 1945 in einer amerikanischen Militärmaschine. Es ging nach Deutschland. Als Journalistin, die ins Exil geflohen war, als Autorin und Kinderbuchkennerin erschien Lepman den Amerikanern geradezu als Idealbesetzung für die im Rahmen ihres Re-Education Programms geschaffene Stelle eines „Special Adviser for Women’s and Youth Affairs“. Lepman nahm an. Nicht ohne Vorbehalte zwar, dafür aber mit umso klarerer Ansage: „Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen.“ In Kinderbüchern aus verschiedenen Ländern sah sie „Boten des Friedens“, und also sollten sie den deutschen Kindern unkompliziert und in großer Zahl zur Verfügung stehen. Lepman startete für ihr Unternehmen „Kinderbuchbrücke“ einen Aufruf, ihr Bücher zukommen zu lassen, klopfte weltweit bei Verlagen an. Die wurden aktiv, packten ihre Bücherspenden in große Kisten und schickten sie nach Deutschland, nach München. Dort hatte es Jella Lepman mittlerweile mit viel Überzeugungskraft hinbekommen, im Haus der Kunst, das die amerikanischen Offiziere als „Kasino“ genutzt hatten, Platz zu schaffen.
Und so fand im Sommer 1946 in diesem wuchtigen Nazibau tatsächlich die erste Ausstellung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg statt: 4.000 Kinder- und Jugendbücher aus 15 Ländern waren zu bestaunen, daneben auch deutsche Kinderbuch-Klassiker aus vergangenen, fast vergessenen Vornazi-Zeiten. Das Publikum strömte, Kinder, Erwachsene standen in langen Schlangen an. 40 000 sollen es am Ende gewesen sein. Von München aus ging die Ausstellung dann auf Reisen: Stuttgart, Frankfurt a. Main, Berlin … Der Erfolg der Bücherschau motivierte Jella Lepman dazu, weiterzudenken. Die Sammlung sollte ein ständiges, ein festes Zuhause bekommen, eine Internationale Jugendbibliothek (IJB) sollte entstehen.
In München waren ihre Augen an einer Villa mit verwunschenem Garten – in der Kaulbachstraße, nahe der Bayerischen Staatsbibliothek –, an der der Krieg nicht schadlos vorbeigegangen war, hängen geblieben. Sie gehörte dem Bayerischen Kultusministerium. Jella Lepman, die längst Mithelfer und Mitstreiter für ihre Sache gefunden hatte, bekam sie. Das Haus wurde fein gemacht, freundlich, einladend – ermöglicht auch durch die tatkräftige wie finanzielle Unterstützung der amerikanischen Rockefeller Foundation und der American Library Association – und am 14. September 1949 stand sie dem Publikum offen, die neue Internationale Jugendbibliothek. Hier konnten die Kinder – und sie kamen in Scharen – vom Keller bis unters Dach über Bücher die Welt entdecken. Sie konnten aber auch malen, diskutieren, Theater spielen – Erich Kästner, den Jella Lepman zu dessen Buch „Die Konferenz der Tiere“ angeregt hatte, leitete die Theatergruppe.
Jella Lepman hat mit der IJB, die jetzt vorwiegend aus deutschen Mitteln auf Stadt-, Land- und Bundesebene, finanziert wurde und deren Direktorin sie bis 1957 war, eine eigene, kleine Welt geschaffen. Bis heute spürt man ihren Geist in den freundlichen Räumen, wenn die auch mittlerweile ganz andere sind. Die IJB hat längst ihr Schloss gefunden: die spätmittelalterliche Blutenburg in Obermenzing. Anfang der 70er Jahre hatte sich ein Verein zur Rettung des Gebäudes „vor dem drohenden Verfall“ gegründet. Die IJB auf der Suche nach einer Unterkunft passte zu dessen Konzept und konnte 1983 als Mieterin in die hellen Türmchen, Gänge und Gemache einziehen.
Die IJB ist mit einer Sammlung von 650.000 Büchern in über 240 Sprachen aus sechs Jahrhunderten – darunter wichtige Nachlässe bekannter Autoren wie Illustratoren – die weltweit größte internationale Kinder- und Jugendbibliothek. Sie bietet ein breitgefächertes Programm, gibt eigene Publikationen heraus, verleiht Preise, gilt als anerkannte Forschungsstätte im Bereich Kinder- und Jugendliteratur und lockt mit ihrem alle zwei Jahre stattfindenden „White Ravens Festival“ für internationale Kinder- und Jugendliteratur ein großes Publikum an. Private Schenkungen füllen ihre Gewölbe, wozu auch das älteste Buch der IJB gehört: eine lateinische „Reineke Fuchs“ Ausgabe aus dem Jahr 1575.
Am 20. September wird die Internationale Jugendbibliothek ihren 70. Geburtstag „ausgiebig“ feiern.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.ijb.de