Wind in den Augen Homers
Eigentlich umfasst die Geschichte nur vier Tage, in denen der Held aus dem Krieg, der in Italien 1943 beendet war, heimkehrt und vom Festland nach Sizilien überzusetzen versucht. Es ist die Landenge zwischen Skylla und Charybdis, der Brücke zwischen den Mythen der Antike und der Gegenwart. Hier hörte Odysseus den Gesang der Sirenen, hier ist die Heimat des Matrosen ‘Ndrja Cambrìa. Doch es ist nicht mehr seine Welt, dieser Krieg hat alles auf den Kopf gestellt, in alles Lebende den Samen des Todes gesenkt. Vier Tage bleiben ‘Ndrja, um in einer Folge von Erfahrungen und Begegnungen diese Wahrheit zu begreifen. Eine geheimnisvolle Frau hilft ihm zwar übers Meer, dennoch muss er erkennen, dass jede Heimkehr vergeblich ist, wenn der Tod am Ruder steht. Stefano d’Arrigos Meisterwerk, nur vergleichbar mit Joyce, Proust, Musil und Kafka, galt als unübersetzbar. Vierzig Jahre nach seinem Erscheinen ist Moshe Kahn nun zum ersten Mal die Übertragung in eine andere Sprache gelungen. Eine Glanztat.
Katrina Behrend Lesch
Stefano d’Arrigo
Horcynus Orca
Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Moshe Kahn
Fischer, Berlin 2015
1472 Seiten, 58 Euro
Verrat an jeder Ecke
Seite um Seite wächst Schmuel Asch dem Leser ans Herz. Zu Beginn muss er jäh seinen Lebensplan aufgeben und sein Studium abbrechen. Und am Ende steht er da und weiß nicht, wie es weiter geht. Aber er ist voller Hoffnung. Was dazwischen passiert, ist das Entscheidende. Amos Oz, der Bestseller-Autor aus Israel, gibt keine weisen Ratschläge, er weiß es auch nicht besser. Aber er lässt seine Figuren nachdenken und reden, lieben und trauern. Und er wagt einen neuen Blick auf den Verrat. Schließlich hat Judas, der Verräter, dem Christentum eigentlich überhaupt erst zur Geburt verholfen. Warum der Verrat so wichtig ist für Amos Oz? In Israel lauert der Verrat an jeder Ecke. Das hat der Autor sehr schön in „Panther im Keller“ aus der Sicht eines Heranwachsenden erzählt. Wer also „Judas“ liest (oder verschenkt), mag „Panther im Keller“ gleich mitlesen (und mitverschenken). Soviel liebe- und humorvolle Achtung vor den Menschen und ihren Eigenheiten ist selten. Und das auch noch in einer schönen Sprache.
Ursula Sautmann
Amos Oz
Judas
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp, Berlin 2015
332 Seiten
22,95 Euro
Obdachlos in Russland
Alexander Ilitschewski beschreibt in seinem neuen Roman „Matisse“ eine Gesellschaft von Unbehausten und meint dies im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Seine Protagonisten versuchen in ihrer Obdachlosigkeit eine Gegenwelt zu finden zur Düsternis des entfesselten Kapitalismus. In der umgewälzten Zeit der 90er Jahre ist die Obdachlosigkeit in Russland bittere Realität. Darüber hinaus ist sie als allgemeine Befindlichkeit zu verstehen, da mit dem alten System vertraute Denkmuster und Welterklärungen abhanden gekommen sind. Die Geschichte beginnt im winterlichen Moskau: Das Stadtstreicherpärchen Nadja und Wadja streiten und schubsen sich durch die kalten Straßen, immer auf der Suche nach Unterschlupf und Kleingeld. In einem Mietshaus treffen sie auf den feinsinnigen Physiker Koroljow, der zwar noch eine Wohnung besitzt, sich aber nicht mehr zurechtfindet. Koroljow schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch die chaotische Zeit, während die meisten seiner Kollegen das Land verlassen haben oder tot sind. Er verlässt Moskau und versucht in der russischen Weite Ruhe zu finden.
Michael Berwanger
Alexander Ilitschewski
Matisse
Aus dem Russischen von Friederike Meltendorf und Valerie Engler
Matthes & Seitz, Berlin 2015
427 Seiten 26,90 Euro
Menschen im Hotel
Viele Türchen waren geöffnet, aus jedem Ausschnitt quoll die Zeit hervor!“ Ja – an einen Adventskalender erinnert der Roman „Postscriptum“ von Alain Claude Sulzer wirklich, an einen Adventskalender mit bisweilen zuckrigem Belag, der manche Erinnerung rosig geraten lässt. Wen trifft der (fik-tive) Romanheld Lionel Kupfer da nicht alles: Greta Garbo, Thomas Mann, Fritz Kreisler. Dem Schweizer Autor scheinen da die Pferde durchgegangen zu sein. Dabei ist Sulzer mit „Postscriptum“ ein Roman gelungen, der vieles glücklich vereint: ein Künstlerroman, eine Portion Zeitgeschichte, eine (wenn nicht mehrere) spannende (Love-) Stories – ein veritabler Page-Turner. Vor allem aber ist „Postscriptum“ eine Milieustudie. Wie schon in seinen früheren Büchern beschreibt Sulzer das faszinierende Leben in einem Schweizer Luxushotel – einem Hotel mit bühnenreifen Auftritten des umschwärmtem Ufa-Filmidols Lionel Kupfer, dessen Karriere die Nazis 1933 abrupt beenden, der Liebhaber und Europa verlässt, ins New Yorker Exil geht und dort mit Nebenrollen reussiert.
Ina Kuegler
Alain Claude Sulzer
Postscriptum
Galiani
Berlin 2015
250 Seiten
19,99 Euro