Autobiografie und Kulturdiagnose
Lange ist es für mich nur ein Name gewesen.“ So beginnt der französische Intellektuelle und Soziologe Didier Eribon seine autobiografische „Rückkehr nach Reims“, den Gang zurück in sein proletarisches Herkunftsmilieu, holt er die vergessene, die verdrängte Zeit seiner Kindheit und Jugend wieder ins Gedächtnis zurück. Man liest nach, wie es zum Aufstieg des Front National kam, wie das französische Proletariat vom Kommunismus zu Nationalismus, Europafeindschaft, Hass auf Islam und Fremde überlief. Festgemacht hat Didier Eribon das an seinem eigenen Grundkonflikt: wie er einerseits sich als Arbeiterkind den Marx’schen Theorien verpflichtet fühlte, gleichzeitig als Homosexueller in diesem Milieu Gewalt und Ausgrenzung erlebte, wie er andererseits sich ins eigentlich verachtete Bürgertum hocharbeitete, auch dank homosexueller Kontakte, dennoch Ablehnung verspürt. Brexit und Trump-Wahl machen den Bestseller in und aus Frankreich aktueller denn je und für jeden bewussten Europäer ein Must.
Katrina Behrend Lesch

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
Autobiografie, 240 Seiten
Suhrkamp, Berlin 2016
18 Euro

Eine Frage der Ethik
Der zugrundeliegende Handlungsstrang lässt sich in wenigen Sätzen beschreiben: Ein Neurochirurg – Mitte dreißig, weiß, wohlhabend – überfährt mit seinem SUV nach einer Nachtschicht einen farbigen Einwanderer. Als Arzt kann er erkennen, dass sein Opfer ohnehin sterben wird, er überlässt ihn seinem Schicksal und begeht Fahrerflucht, um seine Karriere und Familie nicht zu gefährden. Am nächsten Tag steht die Frau des Getöteten vor seiner Tür und will ihn erpressen: Sie will kein Geld, sondern seine ärztliche Unterstützung in Form von nächtlichen Operationen in einem illegalen Flüchtlingskrankenhaus. Diese Konstellation wird den Chirurgen vollkommen aus der Bahn werfen: Er verliert sich in Lügengespinste, wird sukzessive alle moralischen Bedenken abbauen, aber auch Leben retten, Begehrlichkeiten schaffen und seine Grundeinstellungen zu Recht und Gesetz mehrfach umstellen. Ein großartiger Roman der 34-jährigen israelischen Autorin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen über die Frage: Wie hätte ich entschieden.
Michael Berwanger

Ayelet Gundar-Goshen
Löwen wecken
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Roman, 432 Seiten
Kein und Aber Pocket
Zürich 2016, 13 Euro

Das sagen, was gesagt werden muss
Der Held des Buchs, ein freier Philosoph, kommt durch günstige Umstände an ein Mietshaus in München-Schwabing und gedenkt, dort eingezogen, das zu tun, was er schon immer tun wollte, nämlich Nichts. Sozusagen Montaignes Turm, mit Musik von Jean Sibelius. Das wird nicht gelingen, denkt der gewiefte Leser, und behält recht. Hier nur einige wenige der Zumutungen: liebestolle Latein- und Griechischlehrerinnen, Grünwalder Immo-Haie, deren geldgierige Gattinnen und deren ähnlich geartete Nichten, penetrante, auf Derivate spezialisierte Anlageberater, der Sender BR-Klassik, dessen Sprecherstimmen aus der Unterwelt kommen, kreative Bestattungsunternehmer mit unsäglichen Tischmanieren. Solche Dinge ärgern uns alle, und Michael Krüger nennt sie endlich beim Namen. Die vielleicht komischste Geschichte ist die eines Lyrikers und seiner rasenden Verehrerin. Tja – wem die stade Zeit zu stad werden könnte, dem lege man das „Irrenhaus“ auf den Gabentisch.
Hellmuth Lang

Michael Krüger
„Das Irrenhaus“
Roman, 192 Seiten
Haymon-Verlag
Innsbruck, 2016
19,90 Euro

Humorvoll und ergreifend
John-Irving-Fans werden auch an die-sem 14. Roman wieder ihre Freude haben – sie werden immer wieder Paral-lelen zu früheren Romanen erkennen. Außenseiter und vermeintlich gescheiterte Lebensläufe, Jesuiten, Religion, Zirkus, Wunder, Todesahnungen. Absurdes Theater. Der Held, Juan Diego, Bestseller-Schriftsteller, aufgewachsen mit seiner Schwester Lupe – die Gedankenlesen und in die Herzen der Menschen sehen kann, deren Sprache aber nur er versteht – als Waisenkinder auf einer Müllkippe in Mexiko, reist zum Jahreswechsel 2010/2011 durch die Philippinen. Todesahnungen und Liebschaften begleiten Juan Diego. Dies ist der eine Strang der Erzählung. Der zweite Strang, mit dem ersten verbunden, erzählt in Rückblenden die Geschichte der Kinder. Vielleicht ist der Roman auch deshalb so spannend, humorvoll und teilweise auch ergreifend, weil das Schicksal Juan Diegos eng mit der Biographie John Irvings verbunden sein könnte, wie der Autor in einem seiner Interviews angedeutet hat. Ein „wunderbares“ Buch!
BEPPO ROHRHOFER

John Irving
Straße der Wunder
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog
Roman, 776 Seiten
Diogenes Verlag
Zürich 2016, 26 Euro