Auf dem Weg zu „Moby Dick“

Von Katrina Behrend Lesch

So könnte man den vorliegenden Roman „Mardi und eine Reise dorthin“ von 1849 durchaus untertiteln, denn sein unerschöpflich fließender Strom aus Phantasie und Sprache führt geradewegs zu Melvilles berühmtestem Buch. Auch hier beginnt ein Icherzähler die Geschichte, namenlos anfangs, der zusammen mit einem Reisegefährten von einem Walfänger desertiert, sich von Wind und Strömung zu fernen Gefilden treiben lässt, unter dramatischen Umständen das schöne Mädchen Yillah gewinnt und nach deren rätselhaftem Verschwinden zu einer sich in endlosen Abenteuern und Gefahren verlierenden Irrfahrt ansetzt. Wie in einem Schreibrausch, der weit in die Moderne weist, folgt Melville seinen Helden auf ihrer  Rundreise durch den fiktiven Archipel Mardi. Gleichzeitig mäandert er sich durch die Weltgeschichte, die uns der fabelhafte Übersetzer Rainer G. Schmidt in umfangreichen Fußnoten nahebringt. Mitreißend und gewaltig in einer prachtvollen Ausgabe.

Herman Melville
Mardi und eine Reise dorthin
A.d. Englischen von Rainer G. Schmidt
Roman, 832 Seiten
Manesse, München
45 Euro

Die Kraft der Bienen

Von Michael Berwanger

In seinem neuesten Roman „Winterbienen“ erzählt uns der 68-jährige Schriftsteller Norbert Scheuer eine fast vergessene Geschichte aus dem letzten Winter der NS-Diktatur. Im Städtchen Kall in der Eifel – der Ausgangspunkt aller Romane Norbert Scheuers – lebt Egidius Arimond zurückgezogen als Imker, da er als Latein- und Geschichtslehrer von den Nazis wegen seiner Epilepsie aus dem Schulunterricht entfernt worden ist. Um seine teuren Medikamente finanzieren zu können, schleust er Flüchtlinge in umgebauten Bienenkörben über die nahe gelegene Belgische Grenze. Die städtische Bücherei, wo Egidius geschichtlichen Forschungen über seinen Urahn Ambrosius Arimond nachgeht, dient dabei als Umschlagplatz für die Informationen der Fluchthelfer.

In Form eines Tagebuchromans montiert Scheuer vier Handlungsebenen zu einem unglaublich dichten Gefüge, das mehr als alle Fakten die Beklommenheit eines unfreien Lebens in einer Diktatur vermitteln kann.

Norbert Scheuer
Winterbienen
Roman, 320 Seiten
Verlag C.H. Beck
München
22 Euro

Das wundersame „Wurzelwerk“ 

Von Stefanie Bürgers

Berkels Familiengeschichte: ein Panoptikum an Wechselfällen und bemerkenswerten Zeitgenossen. Die Urgroßeltern, jüdische Tuchhändler aus Lodz, haben drei Töchter: Lola, Modedesignerin in Paris, Erfinderin des Hermès Schals. Cesja, Wahl-Argentinierin und Iza, Berkels Großmutter. Die Medizinerin, heiratet Jean Nohl, einen Nichtjuden und gebildeten, homosexuellen Analytiker und wird von ihren Eltern verstoßen.  Das Paar mit Tochter Sala ist zunächst Teil der reformbegeisterten Gruppe am Monte Veritá in Ascona. Später verlässt Iza die Familie, engagiert sich im spanischen Bürgerkrieg. Sala, katholisch erzogen, findet sich im Nationalsozialismus unverhofft als Jüdin wieder. Als Tochter einer Jüdin, ist sie Jüdin, aber zu den Juden gehöre sie nicht, man habe es ihr nie beigebracht. Ihre verzweifelte Reise zu den Wurzeln führt sie zur gefühlskalten Mutter nach Spanien, zu Lola nach Paris. Sie kommt ins Lager nach Gurs, flieht, überlebt mit falscher Identität in Berlin und trifft endlich ihren Otto wieder.

Christian Berkel
Der Apfelbaum
Roman, 416 Seiten
Ullstein Verlage
Berlin
22 Euro

Schwimmende Liebeserklärung

Von Antonie Magen

In „Kanalschwimmer“ wird die Ge-schichte von Charles erzählt, der nach dem Scheitern seiner Ehe Sicherheit und die Ordnung aufgibt, um sich einen Traum zu erfüllen: Er durchschwimmt den Ärmelkanal. Während er sich den Naturelementen preisgibt und den Kampf mit dem Element aufnimmt, verschwimmen im wahrsten Sinne des Wortes auch die Grenzen zwischen innen und außen. In Gedanken passiert nicht nur die Ehe mit Maude Revue, sondern auch die Beziehungen zu seinem besten Freund Silas und seiner Schwägerin, der früh verstorbenen Abbie.

Der neue Roman von Ulrike Dreasner ist nicht nur eine spannende Geschichte, bei deren Lektüre man sich immer wieder fragt, ab Charles die französische Küste je erreichen wird. Er ist außerdem ein Ausflug ins Mytholgische und eine Liebeserklärung an England im Zeitalter des Brexit.

Ulrike Draesner
Kanalschwimmer
Roman, 176 Seiten
Mare Verlag
Hamburg
20 Euro

Literatur im Krieg der Worte 

Von Slávka Rude-Porubská

Der erfolgsverwöhnte Autor Gustav Meyrink wird vom Auswärtigen Amt beauftragt, in einem Propaganda-Roman die Freimaurer zu Kriegsschuldigen zu erklären. Denn dass man Kriege nicht nur auf Schlachtfeldern gewinnt, sondern auch mit Worten und in den Medien, das wissen die Machthaber im Kaiserreich bereits 1918. Mit üppigem Vorschuss und Kisten voller tendenziöser Unterlagen ausgestattet kehrt Meyrink aus Berlin nach Starnberg zurück – und schreibt nicht(s), denn „der Unsinn, der da frech als Fakt posiert“ beschert ihm eine veritable Schreibblockade.

Gekonnt aus wechselnden Perspektiven erzählt, mit Recherchenotizen und Archivmaterialien versetzt, verhandelt hier Christoph Poschenrieder Themen, die 101 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aktueller und brisanter sind denn je – vor allem das Verhältnis von Fakt und Fiktion, von Argumenten und Verschwörungstheorien.

Christoph Poschenrieder
Der unsichtbare Roman
Roman, 272 Seiten
Diogenes Verlag
Zürich
24 Euro